CVJM – „Blickwechsel“

Was veranlasste uns, in einem demokratischen Prozess, diesen Namen für unseren CVJM zu wählen? Wir meinen, dass ein bewusst veränderter Blickwechsel, von wo aus und wie wir Dinge sehen, wichtig ist für das Christ- Werden und auch für das Christ- Bleiben

Tatsächlich kann man anhand vieler Texte aus der Bibel einiges zu diesem „Blickwechsel“ sagen. Er lässt sich beispielhaft und in seinen verschiedenen Facetten an einem sehr zentralen Text des Neuen Testaments erläutern: Dem sogenannten „Doppelgebot der Liebe“:

»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (Lk 10,27)

Drei Mal wird im Neuen Testament in unterschiedlichen Zusammenhängen davon berichtet. Die zentrale Frage nach der Gottes- und der Nächstenliebe, nach dem Kern des Glaubens, taucht also wiederholt auf. Und das ist ja auch naheliegend: Wir brauchen bei den vielen Schriften so etwas wie ein Zentrum. Eine Brille, durch die wir auf die Bibel schauen und sie interpretieren. Diesen Bedarf hatten die Leute zu Jesu Zeiten ebenso wie wir.

Schauen wir uns die drei Stellen kurz an:

(1) Mt (22, 34-40): Hier wird Jesus von den Pharisäern getestet. Denn sie hatten erlebt, dass Jesus ihren Erzfeinden, den Sadduzäern, das Maul in der Auferstehungsfrage gestopft hatte. Sie fragten sich, kann er Ordnung in die vielen Gesetze und Gebote bringen? Oder anders: Was ist für diesen Zimmermann aus Nazareth, diesen Wunderheiler, der uns als religiöse Elite dermaßen vor sich hertreibt das Wesentliche?

Also fragt einer:

Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz?“ (36)

Jesus antwortet mit dem Doppelgebot und erklärt, in diesen beiden Geboten „hänge das Gesetz und die Propheten“.

Das Doppelgebot ist also (erstens) eine Art Kurzfassung der ganzen Offenbarung Gottes!

(2) Bei Markus (Mk 12, 28-34) wird derselbe Fall geschildert. Nur, dass er den Schriftgelehrten, der die Frage stellt, etwas genauer kennt. Obwohl die Schriftgelehrten als Gruppe große Probleme mit Jesus hatten, gab es immer wieder Einzelne, die offensichtlich tief beeindruckt von ihm waren. Als Gruppe waren die Pharisäer entschieden gegen Jesus eingestellt. Das änderte sich auch nicht, selbst wenn Jesus ab und zu ihre Feinde, die Sadduzäer, geradezu waidmännisch zerlegte. Aber dieser spezielle Pharisäer, der die Frage an Jesus richtete, meinte sie durchaus ernst:

Welches ist das höchste Gebot von allen?

Jesus antwortet auf seine Frage mit dem Doppelgebot und erklärt dann: „Kein anderes Gebot ist größer, als diese!“ Es ist also nicht nur eine Kurzfassung, sondern

das Doppelgebot ist (zweitens) der Maßstab der göttlichen Gebote schlechthin.

Dieser Schriftgelehrte stimmt Jesus zu und stellt dann dessen Antwort in den Text-Zusammenhang. Er betont das Einheitsgebot (Gott ist Einer), das dem Text im Alten Testament -daher kommt das Gebot- vorausgeht. Der Pharisäer erklärt nun seinerseits, dass die Einstellung eines Menschen, der Gott und den Nächsten liebt, wichtiger als Brandopfer, Schlachtopfer und alle religiösen Rituale sei. Die tiefe spirituelle Verbindung mit Gott kann man auch als „Glauben“ bezeichnen.

Jesus ist von dieser Erkenntnis eines Schriftgelehrten und Pharisäers tief beeindruckt und sagt: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes!“

Das Doppelgebot ist also für Jesus (drittens) auch eine Art Schlüssel in das Reich Gottes.

Bei Lukas (10,25-28) wird nun eine ganz andere Szene geschildert. Hier geht es zwar erneut um ein Rechtgläubigkeitsexamen, aber in einer ganz anderen Situation. Ein Schriftgelehrter fragt (vielleicht scheinheilig, vielleicht mit echten Anteilen):

Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?

Also wieder die Frage nach dem Schlüssel, um in das Reich Gottes eingehen zu dürfen. Jesus fragt zurück:

Was liest du im Gesetz des Moses?

Und tatsächlich, obwohl die Pharisäer das Alte Testament in 613 Gebote und Verbote untergliedert hatten, weiß auch er um den Kern und zitiert nun selbst das Doppelgebot. Jesus sagt:

Du hast recht geantwortet. Tue das und du wirst leben!“

Jesus erklärt das Doppelgebot also (viertens) zur Lebensformel.

Der Schriftgelehrte lenkt dann ab und fragt, wer denn sein Nächster sei. Ohne nähere Infos weiß er nun offensichtlich gar nicht, was er tun soll. Er muss das Gebot gut pharisäisch operationalisieren, kleinteilig und dadurch handhabbar machen. Die Haltung der Liebe, die grundsätzliche Perspektive reicht ihm nicht aus. Er braucht Ausführungs­bestimmungen. Daraufhin erzählt Jesus die Geschichte vom „Barmherzigen Samariter“.

Aus dieser Übersicht über die dreifache Nennung des Doppelgebots im Neuen Testament können wir also vier Punkte zusammenfassen:

Das Doppelgebot der Liebe ist

  1. Kurzfassung aller Gesetze,

  2. Maßstab des ganzen Gesetzes,

  3. Schlüssel für das Reich Gottes,

  4. und unsere Lebensformel.

Es lohnt sich also, das Doppelgebot etwas genauer anzuschauen. Und zwar im Hinblick auf die darin enthaltenen Blickwechsel. Wir haben ja schon gemerkt, es geht dabei um eine grundsätzliche Haltung, um eine innere Einstellung, nicht so sehr um konkrete Handlungsanweisungen. Es geht um Sichtweisen auf Gott, den Nächsten und unser Leben. Offensichtlich fordert das Gebot einen Blickwechsel. Denn, würden wir alles bereits von Natur richtig sehen, dann bräuchten wir kein Gebot. Dann wäre es eine Ist-Beschreibung. Es ist aber als Soll-Vorschrift formuliert. Als Aufforderung. Also geht es darum, eine andere Perspektive zu wählen – einen Blickwechsel vorzunehmen. Und zwar nicht nur einen, sondern letztlich drei!

Denn obwohl es Doppelgebot genannt wird, kommen tatsächlich drei Liebes-Objekte vor, die wir beachten müssen. Das Subjekt bist du / sind wir, aber es geht um drei Objekte: Gott, der Nächste und wir selbst.

1. Der erste große Blickwechsel: Gott lieben

Wir sollen auf Gott sehen! Worauf sehen wir denn sonst? Das Gegenteil von Gott ist in der Bibel die Welt. Der erste Blickwechsel geht also von der Welt weg zu Gott hin. Tatsächlich fallen einem da sofort mindestens drei untergeordnete Blickwechsel ein:

1.a) Größenwahn und Glauben an die eigene Vernunft oder Gottes Weisheit

Der Mensch lebt in dem Wahn der totalen Herrschaft der Vernunft. Er ist von seinem Verstand fasziniert und sich daher selbst genug. Die Ratio kennt und akzeptiert keine Grenzen. Die Vernunft, die ihn zweifellos von den Tieren zumindest quantitativ unterscheidet, ist sein Gott. Und von da kommend ist es ein echter Blickwechsel zu dem Bewusstsein: Menschen brauchen Gott, Menschen sind in Gottes Hand, Menschen sollen Gott als ihren Gott achten. Sie sollen sich abwenden von den weltlichen Allmachtsphantasien und auf Gottes Größe blicken. Weg vom eigenen Ameisenverstand, hin zum Vertrauen auf Gottes überlegener Weisheit und Führung. Luther lässt einmal Gott sprechen:

„Es muss gehen nicht nach deinem Verstand, sondern über deinen Verstand. Senke dich in Unverstand, so gebe ich dir meinen Verstand. Unverstand ist der rechte Verstand; nicht wissen, wohin du gehst, das ist recht wissen, wohin du gehst. Mein Verstand macht dich gar unverständig.“

Das ist der erste Blickwechsel vom Größenwahn und Glauben an eigene Vernunft zu Vertrauen in Gottes Weisheit. Auch wenn du es nicht verstehst, ja gerade, wenn du es nicht verstehst, bist du richtig!

1.b) Wer regiert? Zufall, Teufel oder Gott.

Ein zweiter Blickwechsel bezieht sich darauf, was eigentlich die Welt bewegt? Wer hat die Kontrolle? Hierunter fällt auch der Blickwechsel der Maria im sogenannten Magnificat (Lukas 1), wenn sie sagt: 51 – 53:

Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.

Wie? Tut er das immer? Geht es immer so aus, dass wir sagen:

Ja, Gottes Willen hat sich durchgesetzt?

Nein, sehr oft scheint es ganz anders zu laufen. Also denken wir, es ist der Zufall. Eine Laune der Natur oder der Geschichte. Schicksal. Der eine wird krank, der wird andere gesund. Die eine bekommt Kinder, die andere nicht. Manche leben in einem reichen Land, andere verhungern. Einer kommt an die Macht, hat Erfolg, der andere stürzt oder versagt. König David sagt mal in einer seiner schlechten Stunden salopp:

Das Schwert frisst mal diesen mal jenen.“ Also ein zufälliges Schwert!? Pech gehabt!

Aber die Bibel stellt dagegen: „Es wird regiert“. Er übt Gewalt mit seinem Arm… Gott sitzt im Regiment, sowohl der Geschichte als auch deines Schicksals. Man muss es nur sehen. Man muss den Blickwechsel vornehmen und die Welt und das Leben durch die Augen des allmächtigen Gottes, des gütigen Vaters, sehen.

Die Alten nannten das die gubernatio Gottes: Gottes unsichtbare Weltregierung. Der Glaube erkennt, dass Gott die Weltgeschicke und deine Lebensgeschicke lenkt. Weder Zufall noch Satan haben dich in ihrer Hand – was immer dir geschieht – sondern allein der Gott und Vater, von dem du kommst und zu dem du gehst. Der, der dich liebt und dich auf seinen verborgenen Pfaden sicher führt, so dass es – zumindest im Nachhinein betrachtet – gut für dich ist.

Das ist der zweite Blickwechsel: Nicht Zufall oder Satan, sondern Gott regiert. Gerade wenn es uns nicht gut geht, müssen wir diesen Blickwechsel bewusst vornehmen und mit den Augen des Glaubens sehen.

1.c) Die Hier-und-Jetzt-Fixierung gegen das Große Ziel

Hierunter fällt aber auch der psalmistische Blickwechsel zum Beispiel in Psalm 73. Dort leidet der Psalmist darunter, dass diejenigen, die Gott einen guten Mann sein lassen und sich nur nach ihren eigenen Vorstellungen richten, ein herrliches Leben führen und er, der Gottes Sachen stets vor Augen hat, ein schweres Leben, sogar mit Leiden führen muss. „Denen geht es gut, ich aber und andere Fromme leiden. Wo ist Gott? Was soll das alles?“

Aber als der Psalmist in Gottes Nähe kommt, das Heiligtum betritt, geschieht der große Blickwechsel. Denn wer in Gottes Nähe tritt und von Gott vorgelassen wird, sieht die Welt durch Gottes Augen. Er fängt an, die Menschen zu sehen, wie Gott sie sieht. Er sieht den großen Zusammenhang:

Er sieht Menschen aus Gottes Hand kommen. Wie Gott sie in die große Vorhalle zu seinem herrlichen Haus stellt. Und er sieht, dass die Vorhalle zwei Türen hat. Die eine Tür führt in das prächtige Vaterhaus. Warm und hell. Die andere führt hinaus in Dunkelheit, Einsamkeit und Kälte. Auf der einen Tür steht der Name Jesus Christus, auf der anderen das Wort Unabhängigkeit. Stolz, selbstbestimmt und ohne zu beachten, dass Gott sie so in den Raum gestellt hat, dass sie die erste Tür schon vor Augen haben, machen sie es sich im Eingangsbereich so gemütlich wie möglich. Sie richten sich dort ein, schmeißen sich auf die Sessel, entkorken die Flaschen, die dort herumstehen, und knipsen den Fernseher an. Sie verhalten sich, als seien sie schon am Ziel angekommen.

Und der Psalmist, der bisher fasziniert darauf blickte, wie gut es ihnen geht, sieht plötzlich, wie sie doch alle verschwinden. Die einen schneller, die anderen langsamer und zwar alle durch die Tür mit der Aufschrift Unabhängigkeit, hinter der es hinaus in die Kälte geht. Das bisschen Autonomie, Selbstherrschaft und Party, das sie im Eingangsbereich hatten und was auch immer sie sich durch ihre Selbstbestimmung versuchten zu ermöglichen, zählt plötzlich nicht mehr. Denn diese Dinge stehen in keinem Verhältnis mehr zu dem, was sich nach der Tür abspielt: der Verbleib in selbstgewählter Kälte und Dunkelheit.

Und dann sieht der Psalmist sich selbst in der Vorhalle stehen. Er sieht sich von einer Hand geführt, die ihn sicher zur Tür mit der Aufschrift Gottes in das prächtige warme Vaterhaus führt. Und er erkennt plötzlich: nur eines zählt! Man muss sich in das prächtige und warme Haus führen lassen. Was sich in der Vorhalle abspielt, ist nach dem Blickwechsel völlig zweitrangig. Was allein zählt, ist auf dem Weg zur Tür ins Vaterhaus zu kommen, durch Jesus Christus hindurch zu gehen, der sagt: Ich bin die Tür….

Wir merken, dieser Blickwechsel ist total wichtig für uns. Wenn wir diesen Blickwechsel nicht vornehmen, dann könnten wir wirklich verzweifeln über die Ungerechtigkeit, die uns und anderen geschieht oder die wir selbst verüben. Nur wenn wir den Blickwechsel vornehmen und das große Bild sehen, erkennen wir, worauf es ankommt. Nur dann bleiben wir geistlich und damit seelisch gesund.

2) Der zweite große Blickwechsel: Den Nächsten lieben

Wir sollen auf den Nächsten sehen. Worauf sehen wir denn sonst? Wir sehen meist eben nicht den Nächsten, sondern wir sehen uns selbst. Der zweite grundsätzliche Blickwechsel geht von mir selbst weg auf den Nächsten. Es geht um Liebe zum Nächsten, Barmherzigkeit, Mitgefühl, Einsatz für andere gegen Eigenliebe, Eigensucht, Egoismus, Kampf um den besten Platz.

Nicht umsonst erzählt Jesus im Zusammenhang des Doppelgebotes die Geschichte des Barmherzigen Samariters. Der Barmherzigen Samariter denkt nicht nach, er handelt. Über Grenzen hinweg. Durch Gefahren hindurch. Er ist wie Jesus, der auch nicht darüber nachdenkt, was ihm das bringt! Jesus sagt sogar explizit: Wer denen dient, die einem wieder dienen können, der tut nichts Besonderes. Das machen die Sünder und Heiden auch. Dazu gehört nichts! Das ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Möglicherweise mit dem üblichen Ausfallrisiko, dass der andere womöglich seine Schuld einmal nicht ausgleicht. Aber so ein Geschäft hat rein gar nichts mit Liebe zu tun.

2.a) Aufs eigene Wohlergehen sehen gegen das Ins-Licht-blicken

Aber ist dieser Blickwechsel einfach ein Moralappell? Tu gefälligst deinem Nächsten Gutes und sei nicht so egoistisch? Sei ein „guter Mensch“! Das wäre zu wenig und das ist auch nicht realistisch, denn wir sind ja nun mal abgrundtief selbstbezogen. Die einen etwas weniger offensichtlich bzw. kultivierter, weil sie mehr Erziehung genossen haben oder sich besser im Griff haben. Die anderen direkter, also mit etwas weniger Erziehung oder Selbstbeherrschung.

Wie kann also so ein Blickwechsel zum Nächsten stattfinden? Wie kann man das Natürlichste, was in einem angelegt ist, nämlich das Sorgen um das eigene Wohlergehen, ablegen?

Das geht offensichtlich nicht aus eigener moralischer Kraft. Es gibt nur einen Weg. Die selbstlose Liebe Jesu Christi leuchtet so hell, dass sie von dem, worauf sie trifft, reflektiert wird. Anders gesagt: Wer aufsieht zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens (Hebr. 12,2), wer diesen Blickwechsel macht und in dieses helle Licht sieht, der kann nicht anders, als dieses Licht auch wieder abzustrahlen.

Schauen wir uns den Mond an. Ein kalter und dunkler Steinbrocken im Weltall, aber die Sonne strahlt ihn an. Er ist kein Spiegel. Nur dunkle Steine, Fels, Dreck, aber die Strahlen der Sonne sind so hell, dass er reflektieren muss. Und so leuchtet er bei Nacht. Der Mond blickt auf die Sonne und wird zum Licht. So ist der Mensch, der den Blickwechsel auf Jesus vollzieht. Er wird zum Licht. Jesu Liebe strahlt ab. Der erste Blickwechsel hinsichtlich des Nächsten ist einfach: Jesu Licht reflektieren. Lassen wir uns anstrahlen!

2.b) Eine Gruppe von Gleichgesinnten oder die Gemeinschaft der Heiligen

Aber wir wissen auch: Der Mann, der in der Geschichte vom Barmherzigen Samariter unter die Räuber gefallen war, ist im übertragenen Sinne der Mensch, der unter der Last der Sünde und unter den Angriffen des Bösen zusammengebrochen ist und durch Jesus, den wahren Barmherzigen Samariter in das „Lazarett“ Gottes aufgenommen wird. Dieses „Lazarett“ ist die christliche Gemeinschaft. Dort sollen seine Wunden versorgt und seine Traumata geheilt werden. Dort werden, in der Atmosphäre der Liebe Jesu, lindernde und manchmal sogar heilende Kräfte schon in dieser Welt frei. Das ist der zweite Blickwechsel:

Der Blickwechsel auf die Geschwister, mit denen ich in geistlicher Gemeinschaft verbunden bin. Nicht als ein Verein, eine soziale Gruppe Gleichgesinnter, sondern als das wahrhafte Lazarett Gottes schon auf dieser Welt, in der geschundene Seelen sich regenerieren. Ein wichtiger Blickwechsel. Es geht nicht um „Kirche“, um „Gemeinde“ oder einen CVJM als soziale Größen, sondern um die wahre „Gemeinschaft der Heiligen“ schon auf dieser Welt. Es geht um die Familie Jesu, in deren Reihen schon jetzt Wunden heilen und Kräfte wachsen können. So sollen wir uns verstehen. Diesen Blickwechsel müssen und dürfen wir vornehmen.

3) Der dritte große Blickwechsel: Mich selbst lieben

Wir sollen auf uns selbst sehen. Worauf sehen wir denn sonst? Dass ist doch das Problem! Das haben wir doch gerade gehabt…. Aber hier bezieht sich der Blickwechsel auf das Wie? Wie sehen wir uns selbst? Es geht um den Blickwechsel von einem entstellten und verstellten Bild von uns auf das, was wir in Gottes Augen sind.

3.a) Vom ungeliebter Versager zum geliebten Kind

Ich bin nicht genug. Ich habe es nicht geschafft. Mir wurde deutlich gemacht, dass ich klein und unwichtig, ja ein Versager bin. Deshalb bin ich auch nicht liebenswert. Der Höhepunkt dieser Gedanken ist der Suizid. Mach doch Schluss. Bist eh nichts wert.

Die Bibel kennt meines Wissens nach drei Selbstmorde: Saul, Ahitofel und Judas. Alle drei stellten sich aus verschiedenen selbstsüchtigen Gründen gegen Gott. Als ihnen das klar wurde, als sie erkannten, dass sich Gott trotzdem durchsetzt, flüsterte ihnen die lebenszerstörende Macht ins Ohr, dass sie sich das Leben nehmen sollen. Sie seien es nicht mehr wert. Sie hätten ohnehin nur noch Elend und Verzweiflung zu erwarten. Die Stimme sagte ihnen, dass für sie Barmherzigkeit nicht mehr vorhanden sei.

Aber es gibt einen Blickwechsel: Jesus nimmt den Kriminellen noch am Kreuz an! Er nimmt dich und mich an, sündig, versagend, heuchlerisch, verlogen und verbogen wie wir sind. Wir müssen nicht so bleiben, wie wir bisher waren. Er macht einen neuen Anfang mit uns, mit dir. Weil er dich liebt, bist du liebenswert, denn er setzt den Maßstab. Ja, auch du bist schuldig und wirst wieder schuldig, aber deine Schuld trennt dich nicht mehr von Gott, sondern das obere und das untere Ende seines Kreuzes halten die Verbindung zwischen dir und Gott aufrecht. Jesus sagt zu der Ehebrecherin, als sie alle gegangen sind:

Nun, hat dich niemand verurteilt? So verurteile ich dich auch nicht. (Joh 8,11)

Wen Jesus nicht verurteilt, der braucht und darf sich auch selbst nicht mehr verurteilen. Wen Jesus annimmt, der muss sich auch selbst annehmen, sonst würde er Jesus eines Fehlurteils zeihen. Für wen Jesus sein Leben aus Liebe lässt, den darf ich nicht verachten, sondern soll und darf ihn auch lieben. Auch und gerade, wenn ich selbst die Person bin. Das ist der erste Blickwechsel auf mich: Ich darf mich sehen mit Gottes Augen.

3.b) Angst und Unvermögen gegen Mut und Kraft

Hierunter fällt ein weiterer Blickwechsel, und zwar von meinem wirklichen Unvermögen, meiner tatsächlichen, nicht eingeredeten Schwachheit, weg auf Jesus, der mir Kraft gibt.

Es ist die Geschichte des Petrus, der auf dem Wasser Jesus entgegen geht. Er sieht die Wellen und den Sturm. Sie stehen für die übergroßen Herausforderungen, die er mit seiner Kraft nicht bewältigen kann. Sie sind sein Unvermögen, weshalb er auch nichts anderes verdient hat, als unterzugehen. Aber wenn er auf Jesus blickt, der ihn ansieht, der ihn berufen hat, der ihm die Kraft gibt, dann kann er auf den Wogen gehen. Dann hat er ein Selbstvertrauen, das in Wirklichkeit ein Jesus- bzw. Gottvertrauen ist. Dann wird er furchtlos. Dann kann ihn nichts stoppen Und man möchte hinzufügen: Dann kann er auch andere aus dem Wasser ziehen.

Das ist der zweite Blickwechsel bezogen auf mich: Seine Kraft ist in den Schwachen mächtig, in denen, die von den furchterregenden Dingen weg und ihren Blick ganz auf ihn heften. Das wollen wir gemeinsam lernen.

Fazit

Wir haben also in dem Doppelgebot drei grundsätzliche Blickwechsel erkannt:

Der grundsätzliche Blickwechsel hin zu Gott beinhaltet drei kleinere Blickwechsel:

a) Größenwahn und Glauben an die eigene Vernunft

oder Gottes Weisheit

b) Wer regiert? Zufall, Teufel oder Gott.

c) Die Hier-und-Jetzt-Fixierung gegen das Große Ziel

Der grundsätzliche Blickwechsel hin zum Nächten beinhaltet zwei kleinere Blickwechsel:

a) Aufs eigene Wohlergehen sehen gegen das Ins-Licht-blicken

b) Eine Gruppe von Gleichgesinnten oder die Gemeinschaft der Heiligen

Der große Blickwechsel auf mich selbst hat zwei Aspekte:

a) Vom ungeliebten Versager zum geliebten Kind

b) Angst und Unvermögen gegen Mut und Kraft

Alle diese Blickwechsel des Glaubens, von denen es noch mehr geben mag, lassen sich zusammenfassen in dem Vers: (Hebr 12,1b.2)

… lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, 2 und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens…“

Amen

(Dr. theol. D. Hiller, Februar 2014)